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‪ETH‬‪Zurich‬ zu
Jerus‪alem
FP 13. Juli, 2013

‪ETH Zurich‬ 11. Juli, 2013

Politische Optionen in virtuellem Windkanal
Peter Rüegg

Ein Team von Forschern der ETH Zürich, des Hochschulinstituts für internationale Studien in Genf und der Hebrew University of Jerusalem stellen eine neue Computersimulation vor, die den Verlauf von Gewalt in Jerusalem realitätsnah nachzeichnet. Mit dem Modell lassen sich Möglichkeiten für eine friedlichere Zukunft der umkämpften Stadt testen.


Jerusalem ist geprägt durch ständige Konflikte um Platz und Raum. Kaum ein Tag vergeht, an dem die Medien nicht von gewalttätigen Zusammenstössen zwischen israelischen Sicherheitskräften, orthodoxen Juden, Palästinensern oder säkularen Israelis berichten. Ethnische, religiöse und ideologische Spannungen kennzeichnen das soziale Leben in der Stadt. Eine (politische) Lösung für die vertrackte Situation zu finden, ist bis anhin nicht gelungen.

Nun haben Forscher der ETH Zürich, des Institut des hautes études internationales et du développement (IHEID) in Genf und der Hebrew University of Jerusalem ein Computermodell entwickelt, das verschiedene Szenarien für die Entwicklung des Gewaltpotenzials in den 77 Quartieren Jerusalems errechnet.

Die Computersimulation macht sichtbar, in welchen Stadtteilen gewalttätige Auseinandersetzungen vorkommen, wer darin involviert ist, und wie sich diese entwickeln könnten, wenn bestimmte politische Pläne zur Entspannung der brisanten Situation umgesetzt würden. Um möglichst nah an der Realität zu sein, wurde das Modell mit empirisch erhobenen Daten justiert und validiert, damit es auch für die Politikberatung wertvoll sein kann. Die Studie wurde vor kurzem in der angesehenen Fachzeitschrift «American Journal of Political Science» publiziert.

Logik der Gewalt erfassen

Die Idee für diese Studie stammt von Ravi Bhavnani vom IHEID. Er und sein Forschungspartner Dan Miodownik von der Hebrew University of Jerusalem beschäftigten sich schon seit langem mit den Konflikten in Israel, Gaza und in der West Bank. «Die Logik der Gewalt in Jerusalem zu analysieren, ist uns auf einer geführten Tour durch die Stadt gekommen», sagt Bhavnani. Damals hätten sie auf einen Call for Visiting Scientists Kontakt mit Dirk Helbing, ETH-Professor für Soziologie, aufgenommen. Dieser war von der Idee begeistert und setzte Karsten Donnay als Doktorand darauf an, ein Modell der Gewalt für Jerusalem zu entwickeln.

Die empirischen Daten, die der Simulation zugrunde liegen, wurden von den israelischen Projektpartnern gesammelt. Polizeiberichten, Zeitungsartikeln und Berichten von Nichtregierungsorganisationen entnahmen die Forscher Details zu tätlichen Angriffen und Mordanschlägen. Zeitliche und geografische Angaben dieser Delikte flossen als Parameter genauso in die Simulation ein wie anonymisierte Informationen zu Tätern und Opfern. Die Wissenschaftler unterschieden dabei vier verschiedene soziale Gruppierungen: gemässigte orthodoxe und weltliche Juden, ultraorthodoxe Juden, Palästinenser sowie israelische Sicherheitskräfte.

Die Daten umfassen den Zeitraum 2001 bis 2009 und wurden in eine Karte, welche die Stadtteile Jerusalems enthält, eingetragen. Dadurch zeigte sich, in welchen Quartieren es wie oft zu Gewalttaten kam. Mit dem Modell, das Donnay entwickelte, konnten die Forscher schliesslich die Verteilung der Gewalttaten analysieren. Übereinander gelegt, stimmt das empirisch ermittelte «Stadtbild der Gewalt» gut mit demjenigen der Simulation überein. So zeigt sich, dass in den Jahren 2001 bis 2004, also während der Zweiten Intifada, fast die ganze Stadt, insbesondere der Osten und das Zentrum, mit Gewalttaten überzogen wurde. In den Jahren danach konzentrierte sich die Gewalt auf den Osten der Stadt – ein empirischer Befund, den die Simulationen sehr gut abbilden.

Soziale Distanz massgebend

«Ein wichtiger Faktor für die Wahrscheinlichkeit, dass Gewalt ausbrechen kann, ist die soziale Distanz zwischen den Gruppen», sagt Bhavnani. Je grösser diese Distanz, bedingt etwa durch die kulturellen, religiösen oder ideologischen Differenzen, desto wahrscheinlicher ist es, dass Kontakt zwischen den Gruppen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führt. War zwischen 2001 und 2004 die Gewalt zwischen säkularen jüdischen Gruppen und den Palästinensern am grössten, so nahmen in der Nach-Intifadazeit von 2005 bis 2009 gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen ultraorthodoxen Juden und Sicherheitskräften kontinuierlich zu. Die Mehrzahl der Gewalttaten machen aber Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften aus, wie auch empirische Daten zeigten. Dies spiegelt sich in der sozialen Distanz wider.

Um Gewalt zwischen verfeindeten Gruppen einzudämmen, kennt die politikwissenschaftliche Forschung zwei gegensätzliche Ansätze. Der eine Ansatz geht davon aus, dass eine stärkere Durchmischung von Gruppen die Gewalt vermindern kann. Dadurch bauen Menschen ihre Vorurteile gegenüber der anderen Gruppe ab und werden toleranter, was die Hemmschwelle, Gewalt anzuwenden, erhöht. Der andere Ansatz geht vom Gegenteil aus. Er postuliert, dass Segregation zwischen Gruppen wirksamer wäre, weil sich dadurch weniger Kontakt- und Reibungsflächen bieten, an denen sich gewalttätige Auseinandersetzungen entfachen können. Die grosse soziale Distanz bleibt dabei jedoch bestehen. Seit den Arbeiten des Nobelpreisträgers Thomas Schelling ist bekannt, dass Segregation in sozialen Systemen ein verbreiteter und natürlicher Vorgang ist. Für beide Ansätze gebe es eine Reihe von empirischen Beispielen. Das nun vorliegende Modell berücksichtige beide Perspektiven in Bezug auf Gruppensegregation und urbane Gewalt zugleich, was neu sei, betont Karsten Donnay, der das Computermodell entwickelte und programmierte.

Vier Szenarien für die Zukunft Jerusalems

Das Modell ermöglichte es den Wissenschaftlern, vier Szenarien für das Auftreten von Gewalt in Bezug auf den künftigen Status Jerusalems und dessen mögliche Teilung zu errechnen: ein «Business as Usual»-Szenario, ein Szenario, das auf den Parametern des Clinton-Plans von 2000 basiert, eines gemäss dem Palästinenservorschlag sowie ein Szenario, das von einer Separation der jüdischen und palästinensischen Wohnviertel ausgeht. Die Forscher hatten damit quasi einen Windkanal zur Verfügung, mit dem man politische Optionen testen kann.

Segregation, wie im Szenario «Rückkehr zu den Grenzen von 1967» vorgesehen, wäre gemäss dem Modell am besten geeignet, um die Gewalt abzuschwächen. Die Vorschläge der Palästinenser für mehr Autonomie würden genauso zur Entspannung beitragen wie der Clinton-Plan. Der friedensstiftende Effekt von letzterem wäre aber schwächer als der des palästinensischen Vorschlags, besonders in den östlichen Quartieren, wo am meisten Palästinenser wohnen.

Neue Spannungen durch Segregation

Segregation würde aber bedeuten, dass zahlreiche Bewohner in andere Stadtteile umziehen müssten, was politisch nicht leicht zu realisieren wäre und zu neuen Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen führen könnte. Die Wissenschaftler betonen deshalb auch, dass die errechnete Verringerung der Gewalt in den einzelnen Szenarien entscheidend davon abhängt, wie sich die Verhältnisse – sprich die soziale Distanz – zwischen den Gruppen aufgrund von politischen Entscheidungen verändern. Insbesondere zeigt die Studie, dass bereits eine leichte Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Israelis und Palästinensern die positiven Effekte einer Separierung von jüdischen und palästinensischen Wohnvierteln entlang der Grenzen von 1967 erheblich gefährden könnte.

Die Modellrechnungen ergaben auch, dass ein verbessertes Verhältnis zwischen den Bevölkerungsgruppen unter der gegenwärtigen Wohnsituation die Gewalt ähnlich stark abschwächen könnte wie es das Modell für die anderen Szenarien vorhersagt. «Dies unterstreicht, dass es nicht den einen, ‚richtigen‘ Weg zu mehr Frieden in Jerusalem gibt, sondern verschiedene Optionen», sagt Ravi Bhavnani. Dies sei die Stärke des in der Studie verfolgten Ansatzes: Er erlaube es, das Potenzial diverser Alternativen vergleichen zu können.

Herausforderung für die Sozialwissenschaften

ETH-Professor Dirk Helbing ist denn auch über das Modell erfreut: «Es ist eines der ersten, welches das Potenzial der empirisch fundierten agentenbasierten Modellierung in den Sozialwissenschaften für ein jahrhundertealtes Problem und ein kompliziertes Gebiet unter abstrakter Berücksichtigung kultureller Faktoren nachweist», sagt er. Es sei mit empirischen Daten nicht nur kalibriert, sondern auch validiert worden. «Dies verleiht dem Modell eine grosse Realitätsnähe.»

Mit den Simulationen wollten sie keine Politik betreiben, betonen die Forscher. Bisher habe es aber keine öffentlichen, wissenschaftlich aufgearbeiteten Was-wäre-wenn-Szenarien für Jerusalem oder andere Krisenherde gegeben. Dass die Simulation Möglichkeiten zur Reduktion der Gewalt und damit zur Bewahrung von Menschenleben aufzeige, sei sehr positiv, freut sich Helbing. «Modelle wie dieses könnten dereinst helfen, schwierige politische Entscheidungen auf einer besseren Informationsgrundlage zu treffen.»

Abstrakt betrachtet hätten Konflikte ähnliche Ursachen wie Finanzmarktkrisen, Revolutionen und Massenpaniken, betont Helbing, nämlich eine systemische Instabilität. Dadurch können Kaskadeneffekte auftreten, die ein System zum Kippen bringen. Das Heimzahlen von Gewalt mit Gewalt, die am Ende eskaliert, sei ein gutes Beispiel. Aus kleinen lokalen Störungen können rasch grosse systemweite Schäden entstehen. «Für die Sozialwissenschaften ist die Bewältigung von Konflikten eine der ganz grossen Herausforderungen, vielleicht sogar vergleichbar mit einigen langstehenden Problemen in der Physik und Mathematik», so der ETH-Professor.

Literaturhinweis
Bhavnani R, Donnay K, Miodownik D, Mor M, Helbing D. Group Segregation and Urban Violence. American Journal of Political Science. Article first published online: 27 June 2013. DOI: 10.1111/ajps.12045.
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